Predigt: “Geh aus mein Herz und suche Freud”

9. Sonntag nach Trinitatis (18. August 2019)

Liebe Gemeinde!

Ausgehen ist schön. Je nach Anlass legt man die entsprechende Garderobe an und macht sich auf den Weg in ein schönes Lokal. „Wir gehen heute Abend aus!“, heißt es dann verheißungsvoll, wenn zum Beispiel am Hochzeitstag ein Ahnungsloser wegen eines Treffens nachfragt.

Ausgegangen sind wir alle. Irgendwann haben wir alle Europa verlassen und sind hierher gezogen. Manche für länger, manche für kürzer. Und jeder und jede hat seinen und ihren Grund dafür. Die meisten werden einmal an den Punkt gekommen sein, wo sie sich fragen oder gefragt haben: War das so richtig ? Wäre ich nicht besser geblieben, wo ich war ?

Und dann kommen die guten Erfahrungen mit einer anderen Kultur, Fremdem, das nahe kommt und Nahes, das anders erlebt wird. Nicht zu vergessen die WhatsApp Fotos vom aktuellen Nationalparkbesuch oder einem anderen Erlebnis.

In welcher Version auch immer: Ausgehen kann etwas Schönes sein.

Wer ausgeht, der entdeckt, wenn er Augen und Ohren auf macht. Das kann zum Beispiel das Straßencafe sein, wo man die Vorüberziehenden beobachtet und auch gleich kommentiert. Oder seine neueste Garderobe ausführt. Sehen und gesehen werden. Was früher mal für den Kirchgang gegolten hat. Sehen und gesehen werden. Genauso gilt auch: Wer ausgeht, ist in Bewegung. „Bleib’ nicht sitzen in dei’m Nest, reisen ist das Allerbest“, heiß es schon in einem alten Handwerkslied.

Um offene Augen und Ohren geht es auch in dem Lied, dem wir das Thema unsres heutigen Gottesdienstes verdanken: Geh aus, mein Herz und suche Freud’. Also nicht nur ausgehen, sondern auch suchen. Was doch nichts andres heißt als: Macht eure Augen, Ohren und Nasen auf und nehmt wahr, was um euch herum ist !

Gleich in fünfzehn Strophen führt uns Paul Gerhardt, ein Mann, der während des dreißigjährigen Krieges lebte, in seinen Sommergesang ein. Fünfzehn, das ist nicht zufällig, das sind sieben Tage Schöpfung und acht Tage Vollendung am Ende der Zeit, also Diesseits und Jenseits, Zeitlichkeit und Ewigkeit, hier und dort. So lässt sich das Lied in zwei große Abschnitte teilen. Und so wird auch die Grundstimmung des Liedes, die Freude, im Diesseits und Jenseits behandelt, Freude auf der Erde und Freude im Himmel. Beide Teile sind miteinander verwoben und ergänzen sich gegenseitig. Ein echtes Kunststück: Ausgehen hier auf der Erde und Ausgehen im Himmel, das Ausgehen der Christen hat keine Begrenzung. Wenn Christen ausgehen, gehen sie durch alle Zeiten, weil sie mit dem gehen, der Zeit und Ewigkeit geschaffen hat.

Ausgehen ist schöner, wenn es mit anderen geteilt wird. Vier Augen sehen mehr als zwei. Vielleicht spiegelt sich das auch im Ausdruck mancher Cafebesucher, die da allein vor ihrem Glas sitzen und nicht immer einen so frohen Eindruck machen. Ausgehen zu zweit oder mehreren, das macht mehr Spaß. Das gilt auch für das Christsein. Von Zinzendorff schrieb einmal: Ich konstatiere kein Christsein ohne Gemeinschaft. Und so heißt es in unsrem Lied: „… und siehe, wie sie mir und dir…“ .

Unser Lied ist aber mehr als ein Sommersparziergang durch die Natur. Es ist eine Aufforderung, mit den Augen des Herzens zu sehen, zu erforschen, was hinter den Dingen steckt, tiefere Zusammenhänge zu entdecken.

So geschieht dies in der Bergpredigt, wenn es dort heißt: „Seht die Vögel des Himmels an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie ? Wer von euch kann denn mit seinem Sorgen sein Leben auch nur um eine Stunde verlängern ?“

Das ist das heimliche Motiv der ersten Verse: Wer kleinliches Sorgen um sich selbst abwerfen kann, weil er einen hat, dem er sein Sorgen überlässt, der öffnet sich Gottes Taten, entdeckt sie immer mehr und wird frei, ihn deswegen immer mehr zu loben.
Nach einem siebenstrophigen Sparziergang durch die Landschaft von Gottes Taten kommt der Ausgehende bei sich selbst an. Das ist gut so. Karl Valentin schrieb einmal: „Heute wollte ich mich besuchen. Aber ich war nicht zuhause.“ Das ist ja auch schlimm, wenn man wegen all dem Hin und Her nicht mehr zu sich findet, vor lauter Unterwegssein nicht mehr weiß, wo man hingehört, nicht mehr bei sich selbst ankommt.

In unsrer achten Strophe, dem Übergang zum zweiten Teil, kommt der Sänger bei sich selbst an: ICH selber kann und mag nicht ruh’n… ICH singe mit, wenn alles singt …Bei aller Freude am anderen: Wenn ich mich selbst verloren habe, komme ich nie bei mir an. Wenn ich nicht weiß, wer ich bin und wo ich hingehöre, verliere ich mich selbst und werde blind für das, was um mich ist. Dann fällt mir das Loben von dem, was Gott geschaffen hat, schwer.

Der zweite Teil unsres Liedes verlässt unsre Zeit und Dimension. Vom Garten hier wird der Blick auf den Garten im Himmel gelenkt, auf das Paradies. Das verlorene Paradies. Unerschöpfliche Quelle zahlreicher Novellen und Romane. Der verlorene gute Platz. Der aus dem Paradies, aus dem Garten Gottes vertriebene Mensch, nach dem er immer Sehnsucht hat. Die Sehnsucht nach Gott.

In einem anderen Lied, das die meisten von uns kennen, ist auch vom Paradies, dem Garten Gottes, die Rede. Und dieses Lied beschreibt noch ein ganz anderes Ausgehen. Da geht kein Mensch, sondern Gott selbst aus. Gott geht aus. Das kann erst einmal unheimlich klingen. Wie ist das, wenn Gott ausgeht ? Wohin geht er da ? Was will er sehen ? Gott geht aus, verlässt seinen Himmel, das Paradies – und sucht die Menschen, die sich nach dem verlorenen gegangenen Paradies sehnen. Das Lied, das ich meine, ist auch ein Loblied: „Lobt Gott, ihr Christen, allzugleich“. Es wird an Weihnachten gesungen. Denn an Weihnachten geht Gott aus, verlässt den Himmel, seinen Garten, das Paradies und sucht seine Menschen, die sich nach dem verloren gegangenen Paradies sehnen. Und macht den Rauswurf aus dem Paradies rückgängig und lädt ein: Bitte eintreten ! „Heut schließt er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis. Der Cherub steht nicht mehr davor, Gott sei Lob, Ehr und Preis.“ Gott geht aus, damit die Menschen bei ihm eingehen können.

Ausgehen hat etwas mit Loben zu tun. Geh aus, mein Herz und suche Freud’. Gefundene Freude führt zum Loben. Jeder Verliebte kann ein Lied davon singen.

Ausgehen hat mit Verlassen, Neues suchen, der Bereitschaft, ein anderer zu werden, zu tun. In deutschen Zeitungen wird gerade der Tage von Woodstock vor fünfzig Jahren gedacht. Von dem Aufbruch, den Zehntausenden, die sich in der Natur trafen und viel viel Musik hörten, die dem Establishment zu Zeiten des Vietnamkrieges Paroli boten. Was haben sie erreicht ?, wird gefragt, Was ist geblieben ? Und manche ziehen Vergleiche zur „Fridays for Future“ Bewegung. Gibt es Gemeinsamkeiten ? Beide gehen heraus aus ihrem gewohnten Umfeld. Die einen auf die Wiesen um Woodstock, die anderen auf die Straße.

Auch dem Gegenteil wird dieser Tage gedacht: Dem Bau der Mauer am 13-8-1961. Sich einmauern, damit keiner mehr raus kann. Und nur der rein, der erwünscht ist.
„Geh aus, mein Herz und suche Freud.“

Aber es gibt auch ein Ausgehen, wo man nur äußerlich fort ist: Nach 27 Jahren in seiner Wohnung in der Altstadt von Altneuhausen entschloss sich Herr K. zu einem Umzug auf die andere Straßenseite. „Was sind wir doch für Indianer“, rief er am ersten Abend in der neuen Wohnung aus. Das bloße Weggehen, der bloße Umzug macht noch keinen anderen Menschen.

In der Geschichte vom jungen Drachen geht es nicht nur um die äußere Bewegung. Da geht es auch darum, dass man innerlich festsitzt und nicht mehr weiter kommt – körperlich wie geistig. Nicht nur ausgehen, sondern auch suchen: Geh aus, mein Herz und suche Freud‘.

Die Geschichte geht so:
In einem weit abgelegenen Tal lebte eine Familie von Drachen, die letzten Drachen, die es überhaupt auf der Welt gab. Sie waren die Nachkommen jener prächtigen und Feuer speienden und fliegenden Geschöpfe, die einst überall auf der Welt zu finden waren. Aber mit ihren Vorfahren hatten die letzten Drachen nicht mehr viel gemeinsam, von deren Kraft und Schönheit war so gut wie nichts geblieben. Sie hatten sich in Erdhöhlen verkrochen, aus denen sie fast nie ans Tageslicht hervorkamen. Von Fliegen und Feuerspeien ganz zu schweigen. So führten sie ein eintöniges, trübes, furchtsames Leben.
Aber da war ein ganz junger Drache, dem wollte es ganz und gar nicht in den Kopf, dass er sich immer nur in einer muffigen und dunklen Höhle verkriechen sollte. Neugierig, aufgeregt und auch ein wenig ängstlich steckte er eines Tages zuerst den Kopf daraus hervor. Es war ein wunderschöner warmer Sommertag. Er freute sich an den vielen Farben, die das Licht erstrahlen ließ, und er genoss die Wärme.
Er ging vorsichtig über die Wiese und staunte über all die verschiedenen Lebewesen und über die Vielfalt der Blumen und Gräser. Und dann all die Gerüche, die um ihn herum waren! Er schnupperte an einer Blume und musste niesen. Und die Grashalme kitzelten ihn an seinem weichen Bauch. Aber das allerschönste war der Gesang der Vögel. Der kleine Drache lauschte wie verzaubert, etwas Schöneres hatte er noch nie zuvor erlebt. Über all das freute er sich so sehr, dass er begann, mit seinen Flügeln, die er noch nie zuvor benutzt hatte und die nur schlaff und kraftlos herabhingen, zu flattern Und was dann geschah, erschien dem kleinen Drachen wie ein Wunder. Langsam, anfangs noch ein wenig schwerfällig, erhob er sich vom Boden. Er konnte fliegen, schwebte schwerelos in der Luft. Er war so glücklich, dass er einen lauten Jubelruf ausstieß. Und da geschah das zweite Wunder. Während er jubelte, brach aus seinem Rachen eine tiefrote Flamme hervor. Jubelnd und Feuer speiend flog der kleine Drache über die Berge. Endlich würde er die Welt sehen können.
Nach einiger Zeit aber fielen ihm die anderen Drachen in ihren Höhlen ein, und er wurde traurig. „Wie glücklich sie sein könnten“, dachte er sich, „wenn sie nicht immer nur in ihren Höhlen hockten.“ Und dann fasste er einen Entschluss. Er würde zurückfliegen und ihnen von seinen Erlebnissen erzählen. Als er in das Tal zurückgekommen war, ging er von Höhle zu Höhle und erzählte, wie schön es sei, zu fliegen und Feuer zu speien. Die alten Drachen waren misstrauisch und wollten seine Geschichte nicht hören. Aus ihren Höhlen herauskommen wollten sie schon gar nicht. Aber einige junge Drachen wurden neugierig. Die Erzählung des kleinen Drachen berührte etwas in ihnen. Einer nach dem anderen kamen sie vorsichtig aus ihren Höhlen hervor. Und alle lernten sie zu sehen, zu hören, zu riechen, zu spüren. Und sie lernten ihre Kraft und Schönheit kennen. Die Freude, das neue Leben der Drachen ließ auch die Alten auf Dauer nicht unberührt. Misstrauisch und langsam krochen sie aus ihren Höhlen. Und auch sie lernten wieder, was es heißt, ein Drache zu sein. Bald waren die Höhlen, die Kälte und die Dunkelheit, die Angst und das Misstrauen vergessen, und die Drachen waren wieder jene schönen und kraftvollen Geschöpfe, die sie vor langer, langer Zeit schon einmal waren.
(Peter Bleeser)

Geh aus, mein Herz und suche Freud’. Amen

Pastor Johannes Löffler