Predigt: Ezekiel 2:1-10; 3: 1-3

Sonntag Sexagesimae, 16 Feb 2020

Warum macht er das ?
Er soll hin zu den „harten Köpfen“, zu den Stur-, Holz- und Betonköpfen mit ihren „verstockten Herzen“, blockiert, unbeweglich, versteinert, die nichts an sich ran lassen. Hin zu den „widerspenstigen und stacheligen Dornen“. Da bleibt man hängen und da fließt Blut. Ein Mensch als Dorn: Der stichelt, sticht, reizt bis aufs Blut. Hin zu den „Skorpionen“: Hinterhältig, verstecken sich dort, wo man sie nicht vermutet und tragen in sich mitunter tödliches Gift – wenn Blicke töten könnten…Er soll Skorpione liebkosen.

Die Beschreibung seiner Gemeinde, die Beschreibung der Gemeinde des Ezechiel.

Heute halte ich meine letzte Predigt als aktiver Pfarrer, am Dienstag beginnt der Ruhestand. Da denke ich zurück an meine Ordination, als ich in den Predigtdienst berufen wurde. Es war Dezember, es war kalt in der Dorfkirche und man vergaß die Kniebank: Eine kalte, harte Altarstufe, auf der ich da niederkniete. Hätte ich aber dann noch eine solche Gemeindebeschreibung wie die des Ezechiel – Sturköpfe, Dornen und Skorpione – erhalten, ich weiß ich nicht, ob ich die Arbeit angenommen hätte.

Warum macht er das ?

Es ist ja schon einmal bemerkenswert, dass wir heute über ein Ereignis nachdenken, das im Sommer 593 vor Christus, also vor 2613 Jahren, stattgefunden hat. Über manches, was wir im letzten halben Jahr erlebt haben, denken wir schon lange nicht mehr nach. Ezechiel war damals dreißig Jahre alt. Der plötzliche Tod seiner Frau hat ihn lange verstummen lassen. Es waren politisch bewegte Zeiten: Der Babylonier Nebukadnezar besiegt die Ägypter, erobert Israel, zerstört in Jerusalem den Tempel, und führt vier Jahre vor unserem Ereignis die Oberschicht der Stadt ins Zweistromland, dem heutigen Irak, um sicher zu sein, dass die Zurückgebliebenen sich von Aufstandsideen und anderem fernhalten. Ezechiel gehörte zu den Kriegsverschleppten und lebte im Feindesland zusammen mit den anderen Zwangsasylanten.
„Menschensohn“ – die Stimme Gottes durchfährt ihn. 93-mal wird er so genannt. Im Zusammenhang einer Gottesvision, einer Gottesbegegnung ist das ein Hinweis auf seine Vergänglichkeit und Verletzbarkeit.

Das, was Ezechiel unmittelbar vorher gesehen hatte, haut ihn um. Er hatte einen Blick in den himmlischen Thronsaal bekommen, gesehen, wen Gott umgibt. „Stell dich auf deine Füße !“

Komm auf die Füße, steh auf, „so will ich mit dir reden.“ Richte dich auf ! Unser Text geht erst mal an einen, der am Boden liegt, der am Boden ist. Er soll wieder auf die Beine kommen, aufstehen, hochkommen.

Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem Psychiatriepatienten, einem kirchlichen Mitarbeiter. Wir verabschiedeten uns, er ging aus dem Zimmer, als die Krankenschwester sagte: „Ich wusste gar nicht, dass er so groß ist !“ „Und als er so mit mir redete, kam der Geist in mich und stellte mich auf die Füße und ich hörte dem zu, der mit mir redete.“ Gott befiehlt nicht: „Auf die Knie !“, sondern „steh auf !“ Lauf los !
Warum macht er das ?

Über die Zusammensetzung derer, zu denen er laufen soll, haben wir gerade schon einiges gehört: Sturköpfe, Dornen und Skorpione. Als Zwangsausländer denken viele nach der Katastrophe eines verlorenen Krieges: „Gott schweigt zu unserem Schicksal. Seine Strafe hat uns getroffen und er hat aufgehört, mit uns zu reden.“ Die volle Opferrolle.

Gott bezeichnet diese Gruppe als „Haus des Widerspruchs“: Einerseits wollen sie an Altem und Gewohntem stets festhalten, auch wenn es immer in die gleichen Sackgassen führt und gleichbleibend schlechte Ergebnisse zeitigt. Hauptsache, nichts ändern zu müssen. Und andrerseits die Sehnsucht nach Gott, der doch lebendig und dynamisch ist – „redest du nicht mehr mit uns ?“ ‚Gott wasche mich, aber mach mich nicht nass !‘ – Haus des Widerspruchs.

Zu denen soll Ezechiel reden und die Aussichten, dass sie ihm folgen, sind denkbar gering. Das ist so, wie wenn man in eine Sitzung geht, deren Beschlüsse schon im Voraus andernorts festgelegt wurden. Und die Botschaft des Ezekiel ist eben nicht: „Bleibt so, wie ihr seid, dann gefallt ihr mir !“

Kein Haus der Einheit, sondern Haus des Widerspruchs, zu dem er da hingehen soll. Es ist schwierig, einem gespaltenen Menschen zu predigen. Er hat eigentlich keine Chance, die Predigt zu verstehen, weil das gleiche Wort auf sich ständig verändernde Wirklichkeiten stößt. Mal hört er auf dem Ohr, mal auf dem anderen. Der gleiche Satz wird widersprüchlich gehört, mal wird er der einen Wahrnehmung zugeordnet, mal der anderen. Ein unmöglicher Auftrag: dem predigen, der von Anfang an die Predigt missverstehen muss.

Und dennoch gibt Gott die Hoffnung nicht auf, sonst hätte er den Ezekiel nicht losgeschickt. Das Erstaunliche dabei ist, dass Gott sagt: „Du sollst ihnen meine Worte sagen, sie gehorchen oder lassen es…“ Finde ich ziemlich cool und gelassen. Keine Seelenmassage mit Höllendruck. Aber auch irgendwie wieder unheimlich: Keiner kann sagen, er hats nicht gehört. Egal, wie die Predigt ankommt: Sie muss gehalten werden. Keinem darf das Wort Gottes vorenthalten werden. Gott will, dass er von allen gehört wird, auch von denen, die von vorneherein schon zugemacht haben.

Das kommt mir ein wenig so vor, als wenn jemandem geraten wird, eine Boutique zu eröffnen, von der von vorneherein schon fest steht, dass keiner dort einkaufen wird. Allerdings ist die Kirche auch keine Boutique. Die Existenz der Kirche hängt nicht davon ab, ob die Leute ihr abkaufen, was sie sagt. Ob sie das schön finden. Ob sie begeistert sind. Ob sie in Massen kommen. Erfolg ist kein Kennzeichen von Kirche. Kirche ist nicht börsenorientiert. Sondern Kirche hängt von ihrer Beauftragung ab.

Warum macht er das, der Ezekiel ? Genau deswegen. Beauftragung.
„Harte Köpfe, verstockte Herzen, Skorpione“. Er soll gerade nicht die Kollektion der Boutique auswechseln, damit die Köpfe weicher, die Herzen offen und aus Skorpionen harmlose Kuscheltiere werden. Ging ja auch immer schief: Wann immer die Kirche auf Kuschel- und Schmusekurs ging, wurde sie von anderen überholt, die das viel besser können.

Was wir den Leuten auszurichten haben, bestimmt Gott allein. Kardinal Meisner sagte einmal: „Wir sind nicht dazu da, der Gesellschaft nach dem Mund zu reden, sondern wir müssen Gott nach dem Mund reden.“

Darum macht er es.

Gott redet nicht nur mit uns, er redet auch durch uns. Das war Ezekiel klar.

Warum macht er das ? Es gab auch andere Gründe: Ezekiel war Pfarrersohn, da hatte er wohl schon früh eine Ahnung von dem bekommen, was es heißt, Gott zu gehorchen. Dass es schwer ist, dem lebendigen Gott zu entkommen. „Höre, was ich dir sage und widersprich nicht !“ Klare Worte, die Gott zu ihm geredet hatte. Und er hatte diese lebensprägende Erfahrung: „Und als er so mit mir redete, kam der Geist und stellte mich auf meine Füße und ich hörte dem zu, der mit mir redete.“ Und es passiert noch etwas:

Er sieht eine Rolle, die auf beiden Seiten beschrieben ist. Das ist ungewöhnlich. Gewöhnlich wird nur eine Seite beschriftet. Allerdings ist der Inhalt dieser vorn und hinten aufgeschrieben Gottesbotschaft bitter: Klagen, Seufzen, Wehe rufe, alles Schlechte wird aufgezählt – das Gericht Gottes ist vollzogen und die Folgen sind zu Papier gebracht.

Und das soll er jetzt auch noch essen, die Suppe, die Rolle, die andere eingebrockt haben.

Haben Sie schon einmal ein Buch verschlungen ? Bis früh zum Tagesanbruch nicht mehr losgekommen, nur noch lesen, nur noch wissen wollen, wie alles ausgeht ? Um dann, als es schon hell wurde, müde, aber erschöpft, ins Bett zu fallen.

Alles essen. Nichts übrig lassen. Nichts runter schlingen. Bitterer Inhalt. „Da aß ich sie und sie war in meinem Munde so süß wie Honig.“ Das überrascht. Aber vielleicht ist es die Nähe Gottes, die Suche Gottes nach dem Menschen, seine Suche nach Beziehung das, was es für Ezekiel so schmackhaft macht. Dass Gott nach der Katastrophe eines verlorenen Krieges seine Menschen sucht. Und dieser Dynamik kann und will Ezekiel sich nicht entziehen. Deshalb macht er das.

Und heute ? 2613 Jahre später ?

Dazwischen liegen Kreuz und Auferstehung Jesu. Am Kreuz hat er alle bitteren Schriftrollen, vorne und hinten mit Schuld und Unheil beschrieben, verschlungen. „Der Tod ist verschlungen in den Sieg“, schreibt der Apostel Paulus.

Im Abendmahl dürfen wir all das Gute essen, das in der Person Jesu Christi liegt. Seinen Sieg am Kreuz feiern. Zuwendung und Vergebung erfahren.

Der Name Ezekiel bedeutet „Gott macht stark.“ In diesen Auftrag hat er sich gestellt, stand auf und ging los. Und genau wegen diesem Auftrag macht er das. Amen.