8. Sonntag nach Trinitatis, 22-7-18, deutsche Gemeinde Nairobi
Liebe Gemeinde,
vor einiger Zeit wurde ich von einem großen Bekleidungshaus aufgefordert, meine Treuepunkte einzulösen, die auch Treuebonus genannt wurden.
Ich stutzte über diesen Ausdruck. Ist das nicht eine recht eigenwillige Bezeichnung für die Rückzahlung von Geld, das man beim Einkauf bereits eingezahlt hat ? Bei einem solchen Rabattsystem zahlen ja nur die drauf, die ihn sich nicht wieder holen.
Kann man da von Treue reden ? Geht es da nicht viel mehr um Kundenbindung auf deren Kosten ? Was ist eigentlich Treue ?
Unser Bibeltext ist ein Dokument der Treue. In Vers 6 heißt es: „… aber ich erweise mich den Tausenden gegenüber, die mich lieben und meine Gebote einhalten, als gnädig und treu.“
Gott ist treu. Aber ist das nicht auch so eine Art Punktesystem ? Wer Gebote hält, wird belohnt, wer sie nicht hält, wird bestraft ?
Wer so denkt, der hat die zehn Worte, wie die Juden sie nennen, gründlich missverstanden.
Treue ist ein Beziehungswort – zwei oder mehrere verlassen sich aufeinander und lassen sich nicht im Stich. Treue ist eine große Eigenschaft Gottes – wie ist Gott ? Treu. „Ein mitfühlender, gnädiger Gott bin ich, langmütig, treu und wahrhaftig“, ruft er dem Moses zu.
Treue. Gleich fällt mir der Traualtar ein. Trauen und Treue sind Geschwister. Aber was stärkt und stützt Treue ? Woraus kann eine Beziehung Kraft schöpfen ?
Manchmal hilft die Erinnerung. „Weißt du noch ?“ Und wenn man hat, werden Fotografien angeschaut. „Weißt du noch, wie wir uns kennen lernten ? Wie es war, beim ersten Mal, als wir uns sahen ?“
„Weißt du noch, als ich dir das erste Mal half“, fragt Gott sein Volk. „Damals, als ihr Sklaven wart der hohen Herren in Ägypten ? Als ihr in größter Hitze Steine brennen und schuften musstet ? Als man schließlich verboten hatte, eure Söhne am Leben zu lassen ? Da habe ich euch rausgeholt und machte aus euch Sklaven freie Menschen.“
Erinnerungen. Da gibt es schöne und schwere. An die Kriegsgefangenschaft damals. Wie die eine Scheibe Brot roch. Das Holz der Baracke. Und dann die Rückkehr. Was die, die einen empfangen hatten, angezogen haben. Und wie es war in der ersten Zeit.
Erinnerungen. Das sind mehr als Gedanken, da gehen die Sinne mit. Da geht das Herz auf oder es verkrampft sich. Da lächelt der ganze Mensch oder es kommen die Tränen. Erinnerungen nehmen den ganzen Menschen in Beschlag. Und sie bestimmen oft seine Zukunft. Eine gute Erinnerung lässt mich auf einem eingeschlagenen Weg weitergehen.
Und genau darum geht es bei den zehn Geboten. Gott erinnert an die Zeit, als aus Sklaven freie Menschen wurden. Und wie sie sich dann an ihm orientiert haben, mit ihm durch die Wüste gegangen sind. Vierzig Jahre lang. Der Prophet Hosea vergleicht diese Zeit mit der ersten Liebe. Und jetzt geht es um die Frage, wie dieser eingeschlagene Weg weitergehen soll. Wie sich die Beziehung zwischen Gott und seinen Leuten weiter gestalten soll.
Das alles ist lange her. Keiner aus unsren Familien kann sich an ein Leben in Ägypten erinnern. Aber auf der Suche nach Orientierung sind wir. Was zählen soll in unsrem Leben. Wie sich unser Leben mit Gott gestalten soll. Und merken: Mit den zehn Geboten lässt sich Freiheit gestalten. Weil die von dem Gott, der Freiheit gibt, stammen.
Das hat mit Erinnerung zu tun und wie man Erlebtes deutet. Ob ich meine Lebensgeschichte, egal, ob kurz oder lang, mit dem Gott der Bibel in Zusammenhang bringe. Generationen vor uns taten dies, indem sie wichtige Ereignisse der Familiengeschichte in ihre Familienbibel hineinschrieben. Ein schönes Bild: Meine Geschichte eingebunden in Gottes Wort.
Das Schließen der deutschen Einheit ist schon so lange her, dass immer mehr gibt, die gar nicht wissen, wie es vorher war. Immer wieder kommt es vor, dass einzelne Parteien diese ihrer eigenen Tüchtigkeit zuschreiben. Wie hört sich das an: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich die Mauer, die euer Volk zerteilte und mit der ihr euch schon abzufinden gedachtet, zerbrochen habe.“
„Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dir immer wieder, auch wenn du es schon nicht mehr zu hoffen wagtest, Menschen schickte, die dich berührten, dir die Wahrheit sagten und dich trösteten. Dieser dein Herr, dieser dein Gott bin ich. Du sollst nicht anderen Götter haben neben mir.“
Da erinnert ein Gott an Begegnungen, an Berührungen, die wichtig waren. Da will dieser Gott eine Lebensgeschichte gestalten. Da kämpft ein Gott mit Leidenschaft um Menschen. Wer Gott zu einem Paragrafen- und Prinzipienreiter machen möchte, wird auch die zehn Gebote nur als stählernes Gesetz verstehen können. Wer aber den Gott der Bibel als leidenschaftlichen Liebhaber erkennt, dem wird bald aufgehen, dass die zehn Worte wie ein Ehering ist, an dem erkennbar wird, zu wem man gehört und mit wem man da eine Beziehung eingegangen ist.
„Denn ich der Herr, dein Gott, hänge leidenschaftlich an dir“. Das heißt doch: Ich leide mit dir mit. Ich leide darunter, wenn unsere Beziehung nicht mehr stimmt. Ich leide darunter, wenn wir uns entfremden.
Die Leidenschaft Gottes kennt auch die Eifersucht. So menschennahe kommt uns Gott. Damit wir ihn verstehen und kapieren, dass es nur ihn und sonst keinen geben kann, dem wir unser Leben anvertrauen. Dass wir uns ausschließlich an ihm ausrichten. Und unser Glück nur von ihm erwarten. Und das Licht auf unsrem Weg.
So einseitig, so ausschließlich ist Gott. So radikal und intolerant. Das ging Menschen zu allen Zeiten gegen den Strich. Und gleichzeitig haben Menschen, die sich so auf ihn eingelassen haben, es gar nicht mehr anders haben wollen: ‚Du bist mein Gott, der mich aus der Sklaverei geführt hat.’
Martin Luther beginnt seine Erklärung der zehn Gebote mit den Worten: „Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen.“
Keine anderen Götter. Keine Talismane, keine Glücksbringer, keine Vermischung. „Denn woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott“, sagt Jesus. Und möchte uns davor bewahren, unsre Lebenssehnsucht, unser tiefes Sehnen nach Glück und Zufriedenheit an das zu hängen, was wir uns selbst geschaffen haben und was verrostet, zerfällt, den Motten anheimfällt.
Gott möchte eine intakte Beziehung, weil nur der glücklich werden kann, der mit dem lebt, der ihn auf die Welt hat kommen lassen – egal unter welchen Umständen. Leidenschaftlich hängt Gott an uns. Eine engere Beziehung kann ich mir nicht vorstellen.
So will Gott unser Leben gestalten. Und gibt uns Gestaltungshilfen, die zehn Worte.
So spricht er unsere Zeit an. Damit wir Zeit haben und nicht sie uns. Einen freien Tag sollen wir haben, den wir nutzen, um uns mit dem, was er sagt, ganz besonders auseinanderzusetzen: „Der siebte Tag ist ein Ruhetag, er gehört Gott.“ Das nenne ich Beziehungspflege.
Der Pfarrer Ernst Lange umschrieb es so: „Du brauchst dich nicht zu Tode hetzen ! Weder durch pausenloses Arbeiten – noch durch eine pausenlose Verfolgungsjagd – weder durch die Sorgen, die du dir machst – noch durch die Angst, du könntest etwas versäumen. Das alles bringt dich nur in eine heillose Verkrampfung und nimmt dir alle Lebensfreude. Ich, der allmächtige Gott, will dein Meister sein. Halte dich an mich und dein Leben wird Erfüllung finden.“
Und das sechste Gebot, oft missbraucht, um den Blick der anderen von sich weg auf einen Mitmenschen zu lenken –„du sollst nicht ehebrechen“ – dürfen wir auch so hören: „Du wirst die Ehe nicht brechen. Du wirst, da du in meiner Hand bist, selbst den Menschen in die Hand nehmen, den du liebst und ihn nicht fallen lassen. Du wirst nichts tun, das ihn oder den Gefährten eines anderen verletzt, enttäuscht, beschämt oder entwürdigt. Die Liebe ist zu kostbar, als dass du sie stören oder gar verderben und zerstören könntest. Du lebst davon, dass ich zu dir stehe… Du wirst zu dem Menschen stehen, den du liebst oder einmal geliebt hast, der dich liebt oder einmal geliebt hat. Du wirst Zeit, Geduld und Kraft übrig haben, um die Liebe zu erhalten oder wieder zu erwecken, von der dein Gefährte und du gemeinsam leben. Du bist bereit, aus jeder Enttäuschung neu anzufangen. Du bist frei. Du bist geliebt. Du bist also zur Liebe fähig.“
Und als letztes Beispiel, wie sich die Beziehung mit Gott gestalten kann, erzähle ich die Geschichte von Tobias und den Lügnern. Die passt zu dem Wort „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“ oder „Verleumde nicht deinen Mitmenschen.“
Tobias, der sich einem staatlich geprüften Oberzauberer gefällig gezeigt hatte, bekommt von diesem das Angebot, sich irgendetwas wünschen zu dürfen. Tobias wünscht sich folgendes: „Ich möchte, dass morgen in meiner Stadt für einen Tag die Schwerkraft für alle Menschen aufgehoben wird, die in irgendeiner Weise die Unwahrheit sagen oder schreiben.“
Am anderen Tag nun ereigneten sich Dinge in der Stadt, die sonderbar waren. Ein Bekannter, dem Tobias am frühen Morgen auf der Straße begegnete, schüttelte ihm die Hand und sagte: „Wie freue ich mich, Sie zu sehen.“ Aber er freute sich nicht lange, denn kaum hatte er den Satz ausgesprochen, flog er in die Luft und der Wind trug ihn von dannen.
In den Zeitungsverlagen löste sich ein Maschinenschreiber nach dem anderen von seinem Arbeitsplatz und flog davon, den schon in der Frühe verschwundenen Redakteuren nach. Als ein Redakteur mit einem Minister telefonierte und ihm sagte: „Ihr Artikel ist zwar ausgezeichnet…“ da brach die Verbindung plötzlich ab, weil der Redakteur so heftig nach oben gerissen wurde, dass die Telefonschnur zerriss.
Um die Mittagszeit stand fast keiner mehr auf der Straße, auf dem Boden der Tatsachen. Im Parlament flog ein Redner nach dem anderen an die Kuppel, an der die Abgeordneten wie dicken Tauben hingen. Als der Parteiführer seine Ansprache begann: „Meine Partei bekennt sich unumwunden zur echten Demokratie“ und ihm seine Parteifreunde den befohlenen Beifall spendeten, durchbrach die Fraktion geschlossen das Dach des Sitzungssaals und wurde vom Westwind Richtung Atomkraftwerk getrieben. Die Menschen schwebten wie Vogelschwärme, oder wenn sie Glück hatten, sich in geschlossenen Räumen zu befinden, hingen sie an den oberen Grenzflächen. Einzig ein paar Geschäftsleute waren noch der Schwerkraft unterworfen, sofern sie nicht so unvorsichtig waren, an diesem Tag ihre Steuererklärung abzugeben.
Liebespaare wurden bei den süßen Worten „Ich liebe dich“ auseinander gerissen, weil der Partner ruckartig in die himmlischen Sphären entrückt wurde. Briefschreiber lösten sich spätestens von ihren Sitzen bei der Schlussformel „Mit vorzüglicher Hochachtung“. Adelige Stiftsdamen, die bis zum Nachmittagskaffee noch Boden unter den Füßen hatten, schwebten mit spitzen und raschelnden Röcken nach oben, als sie das zweite Stückchen Kuchen mit der Begründung ablehnten, sie seien vollkommen gesättigt.
Am Abend war die Stadt wie ausgestorben. Nur ein paar Kinder, die noch nicht sprechen konnten, alle Tiere, fast alle Dichter, die Patienten einer psychiatrischen Klinik – außer dem Personal – und die Betrunkenen blieben der Schwerkraft unterworfen – die letzteren zum Teil sehr heftig. Tobias selbst hielt sich recht und schlecht auf dem Boden, bis er kurz vor Mitternacht zu sich selbst sagte: Er hätte diesen Wunsch nicht geäußert, um seine Mitmenschen zu strafen, sondern um sie zu bessern. Da flog er sanft gegen einen klirrenden Kronleuchter. Schlag zwölf Uhr kamen alle wieder herunter. Wer aber glaubt, dass in unsrer Zeit weniger gelogen wird, der irrt sich sehr.
Wie gut, dass uns Gott selbst auf den Boden der Tatsachen wieder herunter holt. Und sagt: Du brauchst dir nicht länger etwas vorzumachen. Du darfst zurückkehren in unsere Geschichte, in der Menschen Freiheit gefunden haben.
Ich will treu zu dir stehen. Auch bei allen Minuspunkten. Dein Treuepunkt bin ich selbst.
Amen.
Pfarrer Johannes Löffler – KELC – POB 54128 – 00200 Nairobi – Kenya